Wien um 1900: Die bürgerliche Gesellschaft, eine durch Fleiss und Disziplin geprägte und äusserst erfolgreiche Schicht, hat das gesellschaftliche Klima mit ihren Werten und Idealen fest im Griff. Sie hat die Oberhand in Politik, Wirtschaft, Recht und Kultur und bringt für viele Bürgerinnen und Bürger die langersehnte Freiheit von der drückenden Macht der alten Familien. Aber nicht alles glänzt, viele fallen dem Bürgertum innerlich zum Opfer: Ein radikales Leistungsethos und das harte Credo der Eigenverantwortung bringt die Menschen an den Rand ihrer Kräfte.

Individualpsychologie: Zusammenhänge erkennen, Sichtweisen ändern
Individualpsychologie: Zusammenhänge erkennen, Sichtweisen ändern

 

Alfred Adler tritt auf und bringt Lehrer und Schüler an einen Tisch

Vor diesem Hintergrund tritt nun der junge Arzt Alfred Adler auf. 1907 veröffentlicht er seine erste Studie und zeigt einem breiten Publikum den Zusammenhang zwischen physischen Mängeln und deren körperlicher und psychischer Kompensation auf. Adler steht für Achtsamkeit, Gleichheit und Humanität. Das ist revolutionär! Er will denen eine Stimme geben, die von der Gesellschaft nicht angehört werden. Konfliktparteien wie Lehrer, Eltern und Kinder sollten sich an einen Tisch setzen und lernen, Konflikte zu lösen.

Nach Meinungsverschiedenheiten mit seinem Freund, dem Psychoanalytiker Sigmund Freud, gründet Adler wenig später eine eigenen Gesellschaft für freie Psychoanalyse, der spätere Verein für Individualpsychologie.

Die Blütezeit der Individualpsychologie

Zwischen den grossen Kriegen des 20. Jahrhunderts erlebt Adlers Individualpsychologie dann einen wahren Boom. Er gründete unzählige Beratungsstellen, wird Direktor der ersten Klinik für Kinderpsychologie in Wien, lehrt am Pädagogium der Stadt und veröffentlicht eine Reihe wegweisender Schriften. Seine Theorie verfeinert sich und dient Tausenden von Menschen dazu, achtsam und erfolgreich durchs Leben zu gehen. Die Individualpsychologie fördert das Zusammenleben der Menschen, sie hilft, Konflikte zu lösen und einander besser zu verstehen.

Aktueller denn je

Die Individualpsychologie ist eine ausgesprochen lebensnahe Psychologie. Manche nennen sie eine «Psychologie der Strasse» – und dies ist keineswegs abschätzend gemeint. Es dreht sich in der Individualpsychologie auch heute noch alles darum, Menschen in ihren individuellen Lebenslagen, mit ihren einzigartigen Geschichten zu verstehen und so Konflikte und Spannungen zu lösen. Eine einfache und nachvollziehbare Psychologie soll es sein, die den Menschen praktisch dienlich ist.

Seine Arbeit hat auf der ganzen Welt Spuren hinterlassen; bis in die USA fanden seine Theorien breite Rezeption. Am 13. September findet nun der erste Schweizer Kongress für Adlerianische Psychologie in Kloten statt. Ein Zeichen dafür, dass es mit der Individualpsychologie weiter geht.

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